118 SPHINX KLEIST (2025) - Bookart

UNIKATBÜCHER
GERHARD MULTERER
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118 SPHINX KLEIST (2025)

Ebene 2

SPHINX KLEIST (2025)
  


Ü B E R  D E N  T A N Z


I.
Als ich einst schöne Tage im Norden zubrachte, traf ich daselbst in einem öffentlichen Garten eine Tänzerin. Ich konnte sogleich auch den Umstand nicht leugnen, dass ich in der Tat ihre Bewegungen als besonders graziös empfand und dass mir dieser Anblick außerordentliches Glück bereite.

II.
Sie versicherte mir, dass ihr die Pantomimik viel Vergnügen mache und ließ mich nicht undeutlich merken, dass ein Tänzer, der sich ausbilden möchte, mancherlei von ihr lernen könne. Da diese Äußerung durch die Art, wie sie vorgebracht wurde, mir mehr als ein bloßer Einfall erschien, ließ ich mich bei ihr nieder, um mehr über die Gründe ihrer sonderbaren Behauptung zu vernehmen. So erkundigte ich mich über manche Mechanismen und wie es ihr möglich sei, einzelne Glieder selbst und ihre Gelenke so zu bewegen, dass ihr Rhythmus die Momente eines einladenden Tanzes zeigten.
Jede Bewegung sagte sie,  hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen im Inneren ihres Körpers zu regieren; die Glieder, die nichts als Pendel wären, folgten ohne irgendein Zutun auf mechanische Weise von selbst. Sie setzte hinzu, dass solche Bewegungen sehr einfach wären, dass jedes Mal, wenn der Schwerpunkt in einer geraden Linie bewegt wird, die Hüfte von selbst - also unbewusst - schon Kurven beschreibe und das Ganze schon in eine Art von rhythmischer Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich sei.

III.
Diese Bemerkung warf ein derart helles Licht über mein Vergnügen, dass ich meinen bisherigen Begriff von der Schönheit des Tanzes in eine neue Dimension hob.
Ich erwiderte, dass eine Bewegung, die von der mechanischen  Seite  leicht  und  einfach  sei, trotzdem nicht ganz ohne Empfindung betrieben werde könne und dass die Linie, die ihre Bewegung zog, etwas sehr Geheimnisvolles hätte. Sie wäre nichts weniger, als der Weg ihrer Seele aus der Mitte ihres Körpers, und ich zweifelte nicht, kaum dass ich dies aussprach, dass sie es nicht anders empfand. So äußerte ich meine Verwunderung zu sehen, welche Aufmerksamkeit sie dieser Spielart der schönen Künste würdigte. Sie lächelte nur und sagte, sie getraue sich zu behaupten, dass - ohne diese Mitte - nicht einmal die geschickteste Tänzerin im Stande wäre, ihre Bewegungen zu erreichen.

IV.
Mein Blick schlug sich schweigend zur Erde, denn ich wusste sogleich, dass mir solche Leichtigkeit und Anmut noch nie vor Augen kamen. Ich erkannte ihre Seele in ihrer Bewegung und nur ein Gott könne sich auf diesem Felde mit der Materie messen.  Ich wusste wohl, welche Unordnung die natürliche Grazie der Tänzerin im Bewusstsein anzurichten vermag, wenn sich Nicht-Wissen - der unbewusste Zustand der natürlichen Geste - mit dem All-Wissen - einer nicht endenden, göttlichen Perfektion - zum vollkommenen Kunstwerk vereinen.

V.
Und hier - war der Punkt, in dem sich die beiden Enden der zirkulären Weltbilder trafen, ineinander griffen und sich verbanden. Ich liebte diese Schönheit der Welt, das Geheimnis und die Schönheit des Lebens selbst und ich kann auch künftig nicht von ihr lassen; mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Allerdings!  antwortete die Tänzerin, aber dies sei das letzte Kapitel über die Geschichte der Welt.




Zusammenstellung:   Gerhard Multerer
(Bezug: "Über das Marionettentheater" von Heinrich von Kleist)









gerhard@multerer.org
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